Kreative Werkzeuge auf sozialen Netzwerken
Jedes soziale Netzwerk bietet unterschiedliche Werkzeuge an, um der Kreativität der User freien Lauf zu lassen. Das Ziel ist dabei immer dasselbe: Den User unterhalten und so lange wie möglich auf der Plattform halten.
Als Facebook circa 2010 den deutschen Markt eroberte war die Möglichkeit kreativ zu sein noch sehr gering. Man konnte Texte und Bilder teilen. Es gab keine öffentlichen Gruppen oder Personen, das eigene Profil konnte kaum individualisiert werden. Zu Beginn war Facebook einfach cool, weil es kaum Alternativen gab. Jeder hat etwas gepostet. Ich wusste wo meine Kumpels am Wochenende feiern waren, auch wenn ich arbeiten musste. Ich habe Urlaubsbilder von Schulkameraden gesehen, die ich so wahrscheinlich nie gesehen hätte. Aber spätestens nach zwei Jahren war das Ding durch. Das 700. Party-Bild, das 9000. Spiegel-Selfie, das 300. Urlaubsbild am kroatischen Partystrand. In seiner ursprünglichen Form war Facebook somit 2012 schon wieder tot.
Heutzutage ist Facebook für Privatpersonen auch kein Raum der Kreativität mehr. Die Plattform ist eher zu einem Informationskanal geworden und zu einem Werbekanal für Unternehmen. Und Facebook ist in den letzten 2-3 Jahren zum größten und diversesten Forum der Welt geworden, dank der Gruppenfunktion.
Kreative Köpfe auf Instagram
Kurz nachdem Facebook in Deutschland an den Start ging, öffnete auch Instagram seine Tore für deutsche User. 2011 meldete ich mich bei Instagram an. Keiner meiner Freunde hatte Instagram, ich bin nur fremden Menschen gefolgt. Und das war überhaupt nicht schlimm. Denn ich konnte hunderten von talentierten Künstler*Innen folgen, die die Werkzeuge Instagrams nutzten, um kreativen Content zu erzeugen. Einigen folge ich nach 8-9 Jahren immer noch. Ich habe immer wieder neue Dinge entdeckt, es gab nur wenig Selbstdarstellung, kaum Selfies und vergleichsweise wenige Insta-Girls und Insta-Boys.
İlhan Eroğlu
@ilhan1077
Konsta Punkka
@kpunkka
Alex Penfornis
@alexpenfornis
Tommy Lundberg
@tommylundberg
Erst Mitte meines Bachelors, so ca. 2013 hatte so langsam jeder Kommilitone und jede Kommilitonin Instagram. Und da ging das kreative Dilemma los. Anstatt die Werkzeuge der Plattform zu nutzen, fingen die Leute wieder an denselben Mist wie bei Facebook zu posten: Selfies, Mittagessen, Saufbilder. Der einzige Unterschied zu Facebook: 2010 gab es noch nicht so viele Smartphones. Die Leute mussten die Bilder erst auf den PC laden und dann auf Facebook online stellen. Aber dank des Smartphones mit Internetverbindung konnte man seine unkreative Grütze nun direkt mit allen Freunden teilen. Die Leute wollen Likes, aber keinen Aufwand dafür in Kauf nehmen.
Doch Instagram hält seit Jahren gegen die unkreative Ader der User stand. Das soziale Netzwerk stellt immer wieder neue Werkzeuge zur Verfügung, um neuartigen, kreativen und ansprechenden Content zu produzieren. Zunächst war es möglich 15-sekündige Videos zu posten, dann kamen die Insta-Stories, IG-TV und seit ein paar Wochen gibt es die Reels. Mein persönliches Lieblingswerkzeug sind die Insta-Stories. Viele nutzen Insta-Stories, um ihre Facebook-Saufparty-Mittagessen-Grütze in die Story zu posten. Das verschwindet dann zum Glück auch wieder nach 24 Stunden. Dies hat einen großen Vorteil: Die Qualität des Feeds ist deutlich angestiegen. Die meisten Leute haben verstanden, dass dauerhaft verfügbare Bilder hochwertig sein sollten.
Ein Hoch auf die Insta-Stories
Doch Insta-Stories bieten so viel mehr. Man kann ganze Geschichten erzählen, mit Bildern, Texten, Videos und Gif-Animationen. Die Werkzeuge, die Instagram hier bietet sind viel mächtiger als der klassische Feed. Es gibt Leute wie Paul Ripke, Fynn Kliemann, Das Leben des Bryan, kimsalabim_ und der Business Lion die wissen diese Werkzeuge zu nutzen. Deren Stories sind unterhaltsam und einzigartig. Bryan beispielsweise hat eine grandiose Erzählform für sich entdeckt, in der er Videoausschnitte von seinem Tag zeigt und diese mit einer leicht genervt-langweiligen Stimme untermalt. Grandios, einfach, lustig. Aber mit Aufwand verbunden: Videoschnitt, Mini-Drehbuch, hochwertige Audioaufnahme, Aufteilung in 15 Sekunden-Abschnitten… Der Junge macht sich Gedanken und Mühe. Belohnt wird dies mit vielen Followern, die sich unterhalten fühlen.
Kimsalabim_ ist meine neueste Entdeckung. Sie definiert das Wort Kreativität neu. Sie nutzt wirklich alle Werkzeuge von Instagram und TikTok und setzt sich so von anderen Usern deutlich ab. In dem eingefügten Video zeigt sie, wie sie nur den Mitteln, die Instagram zur Verfügung stellt, einen individuellen Story-Post erstellt.
Sex Sells auf Instagram
Natürlich gibt es auf Instagram auch viel Müll, der teilweise erfolgreicher ist als gute kreative Arbeit. Es gibt tausende von hübschen, jungen Frauen, die zwischen 18 und 25 Jahre alt sind und die nichts anderes machen als Fotos von sich online zu stellen. Das Ergebnis: 250K Follower, die zu hohen Werbeinnahmen durch Influencer-Marketing führen, also dem Verkauf von unnötigen Produkten an junge 12-jährige Kids, die nicht verstehen, dass der geliebte Star einfach nur Geld verdienen will. Natürlich gibt es dieselben Accounts auch von Männern. Dies vor allem im Fitness-Bereich.
Auch da darf man natürlich nicht pauschalisieren. Accounts wie die von lu_coaching sind mega informativ und bieten wirklichen Mehrwert.
Unbekanntes Insta-Fitness-Girl mit
unkreativem Content
lu_coaching mit kreativem Inhalt der dem User Mehrwert bietet
Und dann kam…. Musical.ly aka. TikTok
Ich habe eine kleinere Schwester, sie ist 15. Eigentlich ist sie nur jünger, denn sie ist fast genau so groß wie ich. Sie ist Teil der berühmten Generation Z. Internet auf dem Handy ist für sie normal, das war schon immer so. YouTube ist nicht dieser neue coole Scheiß, wo „Die Außenseiter“ ab und zu mal ziemlich nice Videos hochladen, sondern YouTube ist Fernsehen. Facebook? Braucht keiner ihrer Crew, hat auch keine*r. Sie erzählte mir vor 3-4 Jahren von Musical.ly. Ich hatte die App 1 Woche auf meinem Handy, konnte mit tanzenden 10-jährigen Kids nicht viel anfangen und habe die App wieder gelöscht.
Als die Corona-Langeweile immer größer wurde, lud ich mir TikTok herunter. Wenn man es einfach ausdrücken will, bietet Tiktok eine Art Instagram-Feed an, bei dem man jedoch die Werkzeuge der Insta-Stories hat und noch einige weitere Funktionen. Ich habe mir die Möglichkeiten die TikTok bietet genau angeschaut und dachte mir: Krass! TikTok bietet noch mehr Werkzeuge als Instagram und somit noch mehr Möglichkeit für kreative TikTok-Accounts. Ich war gespannt darauf, was ich auf dieser Plattform zu sehen bekomme.
Left foot up in your face…
Doch nach einer Woche habe ich die App entnervt gelöscht. Statt Kreativität lebt die TikTok Community von 2-wöchigen Trends, die von einigen wenigen TikToker*Innen gepusht werden, bis selbst der letzte Dorfmensch im Voralpenland mit einem E-Netz den Trend erkannt und imitiert hat.
„Die TikToker sind so individuell, dass sie wieder alle gleich sind in diesem Duell“.
Hier ist eine kleine Compilation. Da sind ein paar kreative Ideen dabei. Die meisten machen aber einfach 1:1 das was alle anderen auch posten.
Ich habe auch einige ziemlich coole Kanäle auf TikTok entdeckt. Da wäre zum Beispiel der Linksverteidiger von Bayern München Alphonso Davies oder der TikToker isaacmik. Aber am Ende baut das gesamte Konzept von TikTok auf Trends auf und zerstört damit die komplette Kreativität. Die Plattform beraubt sich am Ende also ihrer eigenen Kreativität, die sie ihrer Community gibt. Und trotzdem ist es die am schnellst wachsende Plattform der letzten zwei Jahre. An Trends ist nichts auszusetzen, auch auf Instagram und selbst auf Facebook gibt es ab und zu mal Trends, die imitiert werden. Ich erinnere mich an eine Challenge, bei der plötzlich alle beteiligten Personen im Video eingefroren sind.
Aber wenn ihr schon einem Trend folgt, dann werdet doch bitte kreativ und ändert das ganze etwas ab. Ich möchte nicht innerhalb von 20 Minuten 40 Mal denselben Song mit exakt derselben Choreografie sehen. Ich möchte einzigartigen Content sehen, der mich unterhält und nicht langweilt. Dann ertrage ich es auch, wenn ich immer wieder denselben Song hören muss.
In einem OMR-Podcast Anfang 2020 sagte Fynn Kliemann frei zitiert:
„Wer auf einer neuen Plattform erfolgreich sein will, der darf sich nicht anschauen, was es bereits auf der Plattform gibt. Wer erfolgreich sein will, muss sich die Werkzeuge anschauen, die die Plattform zur Verfügung stellt und daraus seinen eigenen kreativen Content produzieren.“
Sex Sells funktioniert auch bei Kids
Aber anscheinend hat gerade die Generation Z, die diese Plattform ja dominiert überhaupt nicht verstanden, wie man kreativ wird. Aber keine Sorge, auch die älteren auf TikTok haben es nicht verstanden. Aus diesem Grund finde ich TikTok einfach scheiße. In der Gamerszene sagt man ja gerne: „Don’t hate the player, hate the game“. Aber in diesem Fall bietet TikTok genügend Möglichkeiten, um individuell und kreativ zu sein. Nur irgendwie nutzt kaum jemand diese Möglichkeiten. Die Plattform existiert jetzt mehrere Jahre und immer noch wird die Plattform von einfältigen Choreografien dominiert. Und auch hier siegt der Sexismus. Am erfolgreichsten sind in der Regel junge, hübsche Mädchen, die im Gegensatz zu Instagram eher 14-18 Jahre alt sind und die gerne etwas mehr von sich zeigen, als sich ihre Eltern wünschen würden.
Der YouTuber InScope21 bringt das Problem auf den Punkt
Gestern habe ich mir ein paar Videos des recht bekannten YouTubers InScope21 angeschaut. In mehreren Videos macht er sich über die TikTok-Community lustig. Mit diesen Videos spricht er mir aber aus der Seele.
Positive TikTok Beispiele
Ich habe aber auch ein paar Videos gefunden, die kreativ sind und die Möglichkeiten von TikTok nutzen. Wovon TikTok ja am meisten lebt ist die Möglichkeit quasi jeden Song lizenzfrei zu nutzen. Es gibt tatsächlich Leute, die nicht einfach Ihre Hände und Arme bewegen, sondern auch TikToker*Innen, die wirklich wirklich kreativ sind. Dieses Video zeigt, wie man es anders machen kann:
@isaacmik Schwarze können nicht mal normal die Tür auf machen 😂😂 @bodyformus ##dance ##fürdich ##goodvibesonly ##fyp
Auch gibt es die ein oder andere Challenge die es quasi unmöglich macht, dass jedes Video eins dem anderen gleicht, wie eine Packung Eier im Supermarkt. Wie zum Beispiel diese Challene, bei der man den letzten Move der Person vor/neben/hinter sich fortführen muss.
@maggiethurmon Father daughter dance off😂 ##distancedance
♬ Your First Move Is Their Last Move - maddiefckinsmokez
TikTok bietet unter anderem auch die Möglichkeit Duetts aufzunehmen. So kann man jedes TikTok Video nutzen und damit interagieren. Eine Möglichkeit ist es sich vorher mit einem TikTok-Partner abzusprechen. Eine andere Möglichkeit ist es, einfach TikTok-Videos zu nehmen und seiner Kreativität freien Lauf zu lassen. Diese Funktion ist wirklich mega nice und bietet wieder 1000. Möglichkeiten die Wertschöpfungskette zu erweitern und aus bereits vorhandendem Content etwas Neues zu machen. TikTok stellt nicht nur alle Songs der Welt umsonst zur Verfügung, sondern erlaubt es auch einfach die Videos anderer TikToker wiederzuverwerten. Shout Outs gehen raus an Artikel 13 und den Internetexperten Günther Oettinger, dem beim Öffnen von TikTok wahrscheinlich die Raubkopie-Zehnnägel hochklappen.
@vlabriola HAHAHAHANSHISNAVS @iheartmemphis my skinny arms tried at least
♬ Hips Dont Lie by Shakira - goalsounds
Alles gesehen. Alles gehört. Macht mal was Neues
Das Internet in seiner heutigen Form gibt es seit den 90ern. YouTube als erste große kreative Plattform gibt es seit Anfang der 2000er. Facebook und Instagram seit Beginn der 2010er Jahre. Seitdem ist viel Zeit vergangen. Es wurde jedes Gericht der Welt fotografiert. Jeder Gamer und jede Beauty-Queen auf YouTube haben bereits ihren simplen Content vor über 15 Jahren gepostet. Die, die damit angefangen haben sind jetzt teilweise Millionäre (Gronkh, Bibi, DaggiBee). Die hatten damals aber auch keine Konkurrenz und haben etwas komplett Neues gemacht. Es war zwar simpel, aber es gab auch nichts Anderes. Wer heute hervorstechen will, der muss kreativ werden. Der muss neuen geilen Scheiß machen. Der muss sich von den anderen 400.000 Leuten verabschieden, die bereits exakt dasselbe machen. Orientiere dich nicht an Bibi und Gronkh. Überleg dir, wie du anders sein kannst. Und gerade für TikTok wünsche ich mir etwas Neues. Auf YouTube und Instagram gibt es ja wenigstens noch viele unterschiedliche Content-Kategorien. Auf TikTok gibt es fast nur einfältige Musik-Choreografien, schlechte Lippensynchronisation und kurze Comedy-Clips.
Ist Reels die Erlösung oder der Untergang?
Instagram kopiert gerne Dinge. Die Insta-Stories sind entstanden, als Snapchat immer erfolgreicher wurde. Als Instagram die Stories eingeführt hat, habe ich zum Beispiel Snapchat wieder gelöscht. Aber TikTok ist nicht Snapchat. TikTok hat eine Masse an Usern, die so groß ist, dass selbst ein Absprung von 10% – 20% der User kein großes Problem sein wird. In den ersten zwei Wochen nach dem Reels Launch war ich enttäuscht. Die meisten posten einfach ihre TikTok-Videos nun auf Instagram.
Doch ich sehe ein großes Potential in Reels. Die Zielgruppe auf Instagram ist einfach eine viel diversifizierte. Hier sind Instagrammer, die sich bereits eine Community in einem bestimmten Feld aufgebaut haben. Sei es Fitness, Musik, Kalligrafie, Fotografie, Motorsport oder Wohnungseinrichtung. Diese Leute sind quasi dazu gezwungen, sich Content zu überlegen, der zu ihrem Thema passt und zu den Werkzeugen, die Reels bietet. Gerade neuere, aufstrebendere Accounts haben hier die Möglichkeit sich von etablierten, großen Accounts ihres Themen-Gebiets abzusetzen. Reels wird aktuell stark promotet, die Sichtbarkeit ist wirklich hoch. Ich erreiche mit meinen Reels ca. 80% meiner Follower-Anzahl. Manchmal sogar über 100%.
Ich habe Reels für mich entdeckt, um kurze 15-sekündige Videos meiner Drohnen-Flüge zu machen. Die Videos sind zu aufwendig, um sie nach 24 Stunden wieder verschwinden zu lassen. Im eigenen Feed sind die Videos aber nicht ästhetisch. Mit dem neuen Reels-Tab werden die Videos in einem prominenten Tab einsortiert und bilden so ein neues Fundament, um Follower aufzubauen.
In a world where you can be anything be creative
Es gibt das schöne Zitat: “In a world where you can be anything be kind” von der Autorin Jennifer Dukes Lee. Ich würde das Zitat gerne an die Tirade anpassen:
“In a social media world where you can create anything, don’t copy anything, be creative”